[…] in der Psychologie [hat sich] ein neuer Forschungszweig ausgebildet: die empirische Sinnforschung. Tatjana Schnell, Co-Autorin dieses Textes, arbeitet seit mehr als zwanzig Jahren daran, den Sinn im Leben von Menschen zu untersuchen. Als Professorin für Psychologie sammelt und systematisiert sie mit ihren Kolleginnen und Kollegen Erkenntnisse, die Hinweise darauf geben, worin und wie Menschen Sinn finden. Einer davon befindet sich im Wort Sinn selbst. Dessen Ursprung liegt im indogermanischen Wortstamm «sent», der so viel bedeutet wie Reise oder Weg. Es geht darum, «eine Richtung einzuschlagen, eine Fährte zu suchen». Sinn ist dynamisch, er erscheint, und verenädert sich, während man unterwegs ist.
Dabei wallt Sinn meist nicht auf wie das Gefühl des Glücks, spürbar und offensichtlich. Mit ihm ist es wie mit der Gesundheit: Ist er nicht da, kann es schmerzen. Ist er aber da, spürt man ihn kaum. Und doch ist er keineswegs ohne Eigenschaften. Aus zahlreichen Studien und Experimenten kristallisieren sich vier Merkmale heraus, die als Indikatoren dafür gelten, ob Menschen Sinn in ihrem Leben sehen oder nicht.
Kenne ich die Richtung, die ich verfolge? Welche Werte sind mir wichtig? Sind es meine Werte oder die meiner Eltern? Folge ich ihren Erwartungen, denen meiner Freunde oder denen von Leuten auf Instagram? Wenn ich vor Entscheidungen stehe: Kommen meine Werte zum Tragen, oder geht es mehr um anderes, sei es meine Stimmung, das Geld, der Aufwand?
Glaube ich, es ist egal, dass es mich gibt, oder ist mein Dasein von Belang? Kann ich etwas bewirken, in Beziehungen, in der Partnerschaft, im Beruf, in der Gesellschaft? Durch meine Freundlichkeit, mein Anpacken, mein Zuhören?
Habe ich meinen Platz auf dieser Welt gefunden? Fühle ich mich verbunden, zugehörig? Zu anderen Menschen oder zu einer Denkrichtung, einer Religion, zu Tieren, zur Natur?
Ist mein Leben schlüssig? Passen meine sozialen Rollen in verschiedenen Bereichen zusammen, und fügen sie sich zu einem stimmigen Ganzen? Oder scheint es mir, dass ich Dinge tue oder tun muss, die ich gar nicht unbedingt will? Bin ich die Person, die ich gerne sein würde, oder spiele ich etwas vor und orientiere mich an vermeintlichen Erwartungen?
von Tatjana Schnell, Kilian Trotier; 'Die Zeit' Nr. 44/2024
Erfasst am 17.10.2024