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Zwillinge

“Sag mal,” fragt der Knabe das Mädchen, “glaubst du an ein Leben nach der Geburt?”
“Auf jeden Fall! Hier drinnen wachsen wir und werden stark.”
“Ich glaube, das ist Blödsinn!”, sagt der Knabe. “Es kann kein Leben nach der Geburt geben.”
“So ganz genau weiss ich das auch nicht. Aber es wird sicher sehr viel heller sein als hier drinnen. Und wir können herumlaufen und vielleicht sogar mit dem eigenen Mund essen.”
“So ein Unsinn! Wir haben doch unsere Nabelschnur, die uns ernährt. Die Nabelschnur ist zu wenig lang, um herumzulaufen.”
“Doch, es geht ganz bestimmt”, meint das Mädchen. “Es wird eben alles nur ein bisschen anders sein.”
“Du spinnst! Es ist noch nie einer zurückgekommen von ‘nach der Geburt’. Mit der Geburt ist das Leben zu Ende. Punktum.”
“Ich gebe ja zu, dass niemand weiss, wie das Leben nach der Geburt aussehen wird. Aber ich weiss, dass wir dann unsere Mutter bei uns haben, die wird für uns sorgen.”
“Mutter??? Was soll denn das nur sein?”
“Na, jemand, der immer bei uns ist!”
“Quatsch! Von einer Mutter habe ich noch nie etwas gehört.”
“Doch, manchmal, wenn wir ganz still sind, kannst du sie singen hören. Und ich spüre sogar ab und zu, wie sie die Hand auf den Bauch legt …”

von Henri Nouwen

Erfasst am 14.10.2018